Beschreibung
Musik im Kloster San Vito in Ferrara
Raffaella Aleotti
Das musikalische Portrait einer ungewöhnlichen Frau
Als zweite von fünf Töchtern des im Dienste des Herzogs Alfonso II. d’Este stehenden
Architekten und Ingenieurs Giovanni Battista Aleotti (1546-1636) und seiner Frau Giulia
wurde Vittoria Elisabetta 1575 in Ferrara geboren und am 22.September 1575 in der
Parochialkirche Santa Maria in Vado/Ferrara getauft.
Ihr musikalisches Talent wurde bereits im frühkindlichen Alter entdeckt, als sie dem
Cembalounterricht ihrer älteren Schwester lauschte und selber anfing, Cembalo zu
spielen.
Johann Gottfried Walter schreibt:
Aleotti (Vittoria) die zweyte Tochter des Gio. Battista Aleotti von Argenta, war, als ihre
ältere Schwester anfänglich von Alessandro Milleville, und hernach von Ercole Pasquini in
der Music informiret wurde, im vierten bis fünfften Jahr ihres Alters allzeit zugegen,
fassete unvermerckt so viel, daß sie in Jahres-Frist anfieng, so wohl mit Verwunderung
der Eltern, als des letztern Informatoris selbst, auf dem Arpicordo zu spielen; wurde
hierauf zwey Jahr lang mit ungemein gutem Success von diesem guten Alten informiret,
auch auf dessen Vorstellung in das zu Ferrara sonderlich wegen der Music berühmte
Nonnen-Closter zu S. Viti gethan, um sich in selbigen noch besser zu perfectioniren. Nach
erreichtem 14ten Jahre ist sie in nur gedachtem Closter geblieben, und hat verschiedene
Sachen componiret, wovon oben gedachter ihr Vater an.1593, unter dem Titul: Ghirlanda
da Madrigali à 4 voci, 21. mit Italiänischen Text versehene Stücke, von der Guarini
Poesie, zu Venedig in 4to drucken lassen.
Johann Gottfried Walter „Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibiothec“ (Leipzig
1732)
Mit dem Eintritt in das Kloster San Vito legte Vittoria ihren bürgerlichen Namen ab und
nahm den Klosternamen Raffaella an.
Die Nonnen im Kloster San Vito in Ferrara waren für ihren hohen musikalischen Standard
bekannt, nicht nur den Gesang und die Orgel betreffend, sondern auch für das Orchester,
das aus 23 Sängerinnen und Instrumentalistinnen bestand. Giovanni Maria Artusi (1540-
1613) beschreibt in „L’Artusi overo delle imperffettioni della moderna musica“ (1600),
dass die Nonnen von San Vito über einen besonderen Reichtum an Instrumenten wie
Cornett (Zink), Posaunen, Violinen, Viole bastarde, Doppelharfen, Lauten, Cornamusen,
Flöten und ein Cembalo verfügten. Er lobt den Klang und die Intonation des Ensembles
der Schwestern von San Vito als außerordentlich zart und anmutig, „als ob sich das
Paradies selber geöffnet hätte“ und bezeichnete es als „das hervorragendste,
einheitlichste und bestproportionierte in Italien“.
Auch der Bologneser Patrizier Ecole Bottrigari (1531-1612) bezeichnet den Klang und die
Intonation in San Vito als außergewöhnlich gut (anmutig und hoch verfeinert) und er
beschreibt ein Grand Concerto am Ende des 16. Jahrhunderts, in dem Vittoria Raffaella
Aleotti als maestra di concerto, ihr Ensemble mit einem polierten Stab dirigiert. Dieses
gilt als der früheste Nachweis in der Literatur für die Verwendung eines Taktstockes.
Unter der Leitung ihrer Dirigentin Raffaella Aleotti erlebte das Ensemble der Nonnen von
San Vito in Ferrara eine besondere Blütezeit und war weit über die Grenzen Ferraras
hinaus bekannt.
Nach einem musikalischen Leben als Organistin, Komponistin und Dirigentin, als Novizin
und Priorin des Klosters San Vito in Ferrara starb Raffaella Aleotti um 1646 in Ferrara.
Der Nachwelt hinterließ sie zwei Sammlungen wunderbarer Madrigale und Motetten der
Ferrareser Madrigalschule.
Ghirlanda de madrigali a quatro voci, Di Vittoria Aleotti… In Venetia. Apresso Giacomo
Vincenti. M.D.XCIII.
Sacrae Cantiones quinque, septem, octo, & decem vocibus decantandae. Liber Primus. A.
R. S. Raphaela Aleotta. Ferrariensi … Venetiis, Apud Riciardum Amadinum M D XCIII.
Nr. 8 aus „Sacrae Cantiones, quinque, septem, octo, & decem vocibus decantandae,
1593”
Facta est cum Angelo
Facta est cum Angelo
multitudo caelestis exercitus
laudantium Dominum et dicentium:
Gloria in excelsis Deo,
et in terra pax hominibus bonae voluntatis,
alleluja.
Gaudet exercitus Angolorum:
quia salus apparuit.
(Antiphon zur Geburt Christi, Evangelium nach Lukas 2, Vers 13,14)
Übersetzung:
Und alsbald war bei dem Engel
die Menge der himmlischen Herrscharen,
die lobten Gott und sprachen:
Ehre sei Gott in der Höhe
und Frieden auf Erden
und den Menschen ein Wohlgefallen,
alleluja.
Es freut sich die Schar der Engel:
denn das Heil ist erschienen.
Heida Vissing
Münster, im Januar 2021